Veranstaltung: | Landesmitgliederversammlung Grüne Bremen 26.09.2025 |
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Tagesordnungspunkt: | 6 Weitere inhaltliche Anträge |
Antragsteller*in: | Grüne Jugend Bremen (dort beschlossen am: 10.09.2025) |
Status: | Geprüft |
Eingereicht: | 12.09.2025, 12:42 |
A2: Gemeinschaft lässt sich nicht verordnen - Strukturelle Probleme angehen statt über Dienstpflichten diskutieren
Antragstext
Und jetzt ist es tatsächlich so weit: Ende August hat die Regierung das neue
Wehrdienstgesetz auf den Weg gebracht. Ab nächstem Jahr werden Jugendlichen, die
18 werden, Fragebögen zugeschickt. Diese verpflichten Männer ab dem Geburtsjahr
2008, Angaben zu Abschlüssen, Fitness und Bereitschaft zum Militärdienst zu
machen, auch alle anderen werden dazu angehalten.
Am Wehrdienst ist nicht nur zu kritisieren, dass er sich mal wieder gegen junge
Menschen richtet, er ist auch ein weiterer Schritt hin zu mehr Militarisierung.
Wir werden daran gewöhnt, Militär als normalen Teil der Gesellschaft und Politik
zu sehen, wodurch zivile Lösungen und Friedenspolitik weiter an Bedeutung
verlieren.
Die Bundeswehr ist aber kein normaler Arbeitsplatz, sondern geprägt von
autoritären Machtstrukturen, sexualisierter Gewalt, Sexismus und
Rechtsextremismus. Gerade die Art, wie Macht in der Bundeswehr organisiert ist,
ist zutiefst undemokratisch. Sie ist ein Ort normalisierter Gewalt und toxischer
Männlichkeit. Schon bisher kommen die Strukturen der Bundeswehr nicht dagegen
an, was ein massiver Zuwachs nur verschlimmern wird.
Dabei hatten wir 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Die Schuldenbremse
wurde unter anderem für Verteidigungsausgaben ausgesetzt, jetzt bleiben für
junge Menschen nicht nur Schulden, sie müssen auch als Soldat*innen herhalten.
Die Bundeswehr scheitert nicht einfach am Mangel von Geld und jungen Menschen –
das System ist nicht schlecht ausgestattet, es ist kaputt. Die Beschaffungs- und
Besoldungssysteme blockieren die effiziente Nutzung der bestehenden
Möglichkeiten. Und selbst wenn man in der Aufrüstungslogik argumentieren wollte,
fehlen nicht junge Menschen, die nur für ein Jahr bleiben und eigentlich keinen
Bock haben, sondern Fachkräfte.
Auch ist die Möglichkeit, die Wehrpflicht auf FLINTA* auszuweiten, nicht etwa
ein Schritt zu mehr Gleichstellung, wie es uns verkauft wird (6), sondern
verschärft bestehende Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft. Frauen*
übernehmen bereits 44 % mehr unbezahlte Care-Arbeit (1). Sie nun auch noch für
„Verteidigung“ verantwortlich zu machen, bedeutet eine dreifache Belastung. Eine
Dienstpflicht für alle verteilt über das Leben von 18 bis zum Renteneintritt
würde dies verschärfen. Während Männer, die bereits einen Wehr- oder
Ersatzdienst geleistet haben, sich diesen anrechnen lassen könnten, würden
Frauen* nachträglich in die Pflicht genommen, obwohl sie besonders häufig in
sozialen und Pflegeberufen arbeiten.
Ebenso zeigen sich beim Thema Bezahlung der Auszubildenden enorme
Ungerechtigkeiten. Ab 2027 liegt das Einstiegsgehalt für Wehrdienstleistende bei
der Bundeswehr bei 2000 € netto, dazu kommen Unterkunft und Verpflegung, die
gestellt werden, sowie weitere Vergünstigungen wie kostenloses Bahnfahren und
Zuschüsse zum Führerschein. Gleichzeitig liegt das Durchschnittsgehalt in
Ausbildungen nur knapp über 1000 €, ohne zusätzliche Vergünstigungen. Stellen
wir Militär wirklich über Gesundheitsversorgung, Pflege oder Kinderbetreuung?
Dieses Ungleichgewicht wirft nicht nur Fragen nach gesellschaftlicher
Wertschätzung auf, sondern führt auch dazu, dass die Bundeswehr für
marginalisierte Jugendliche eine der wenigen Möglichkeiten ist, schnell
finanziell unabhängig zu werden. Für privilegierte Menschen ist der Wehrdienst
dagegen leichter abzulehnen, während andere aus finanziellen Gründen in ihrer
Wahlfreiheit eingeschränkt werden.
Dass CDU und Co. die Lösung gesellschaftlicher Probleme – von der
Verteidigungsfähigkeit bis zur Stabilisierung der Gesundheits- und Pflegesysteme
– gerne jungen Menschen überlassen ist kein Geheimnis. Ende März kam aber
tatsächlich von den bayerischen Grünen der Ruf nach einem verpflichtenden
“Freiheitsdienst.” Diesen haben auch Stimmen der Bremer Grünen öffentlich mit
Zustimmung aufgegriffen.
Aber nicht nur die Verpflichtung für militärische Zwecke ist problematisch.
Allen Vorschlägen zur Einführung einer Dienstpflicht für die Lösung
struktureller Probleme ist gemein, dass sie gemeinschaftliche Aufgaben und
Versäumnisse auf Einzelne abwälzen. Der Fokus auf junge Menschen nimmt umso mehr
diejenigen in die Verantwortung, die für die Entstehung der Probleme am
wenigsten verantwortlich sind. Insbesondere für die überlasteten Pflege- und
Gesundheitssysteme soll eine Dienstpflicht Abhilfe schaffen; und auch
Organisationen im Katastrophen- und Bevölkerungsschutz sollen durch zusätzliches
Personal abgesichert werden. Vorschläge variieren dabei zwischen einer
Dienstzeit von einem Jahr am Stück oder aufgeteilt auf beispielsweise die Zeit
zwischen dem 18. Geburtstag und dem Renteneintrittsalter.
Dabei verschärfen Dienstpflichten die bestehenden Ungerechtigkeiten und Hürden
für ehrenamtliches Engagement, die der Vierte Engagementbericht der
Bundesregierung von 2024 unterstreicht (2; 3). Zuallererst muss Engagement
bezahlbar sein. Das Taschengeld der Freiwilligendienste von maximal 644€, das in
der Realität häufig niedriger liegt, kommt nicht in die Nähe des
Existenzminimums und verwehrt so vielen den Zugang zum bestehenden Angebot.
Zeitmangel hält besonders diejenigen von Engagement ab, die familiäre Sorge- und
Pflegearbeit übernehmen. Auch hier belastet eine Dienstpflicht in einer
patriarchalen Gesellschaft FINTA*s also nur zusätzlich (1). Zuletzt resignieren
insbesondere junge Menschen von der Teilhabe an der Gesellschaft, weil sie ihre
Interessen ignoriert und sich als übergangen wahrnehmen (4) – eine Dienstpflicht
nimmt massiv Selbstbestimmung über den eigenen Lebensweg vorweg.
Finanzielle und zeitliche Sorgen der Menschen treffen dabei zusammen mit der
bestehenden Unterfinanzierung zentraler gesellschaftlicher Stellen: Sowohl
potenzielle Einsatzstellen als auch die Trägerorganisationen der
Freiwilligendienste stehen häufig am Rande ihrer Kapazitäten, Freiwillige
angemessen betreuen zu können. Gleichzeitig müssen sich zivilgesellschaftliche
Organisationen und soziale Dienste regelmäßig gegen Kürzungen wehren und sind
vonseiten rechter Parteien zunehmend Zeit und Kraft raubenden Angriffen
ausgesetzt. Eine Dienstpflicht würde beispielsweise unzählige schlecht bezahlte
Arbeitskräfte ohne Ausbildung in die Gesundheits-, Pflege- und Sozialsektoren
drängen. In allen herrscht akuter Mangel an Fachkräften, den die Angestellten
momentan nur durch gesundheitsschädliche Überlastung auffangen. Statt ihnen die
Einarbeitung Verpflichteter aufzubürden, müssen sie nachhaltig entlastet werden.
Die politische Debatte über und der Aufbau von Strukturen zur Umsetzung und
pädagogischen Betreuung von Pflichtdiensten binden stattdessen Ressourcen und
Aufmerksamkeit. Somit sind auch Pflichtdienste jenseits der Wehrpflicht ein
massiver Eingriff in die Selbstbestimmung. Gleichzeitig lösen sie nicht die
Probleme, vor denen unsere Gesellschaft steht, sondern halten sie aufrecht,
während sie bestehende Ungerechtigkeiten verschärfen. Die Entwicklung
nachhaltiger und gerechter Problemlösungen für explodierende
Lebenshaltungskosten, überlastete Gesundheitssysteme und den Zusammenbruch des
Klimasystems wird ganz im Sinne der Konservativen und Rechten aus der Debatte
verdrängt.
Unsere Antwort auf die Debatte um eine Dienstpflicht ist der konsequente Ausbau
von Freiwilligendiensten und der Einsatz für dauerhafte, solidarische Lösungen.
Statt junge Menschen in eine Pflicht zu zwingen, müssen wir die
Rahmenbedingungen so verbessern, dass sich möglichst viele freiwillig dafür
entscheiden.
Das bedeutet, Angebote in ihrer Anzahl, Zugänglichkeit und Attraktivität massiv
auszubauen. Sie müssen allen, insbesondere jungen, Menschen ohne zusätzliche
Unterstützung offenstehen. Das aktuell kaum zum Leben reichende „Taschengeld“
muss in ein existenzsicherndes Freiwilligengeld ausgebaut werden. Ansonsten
festigen Jugendfreiwilligendienste die Privilegien von finanziell gut gestellten
Familien. Unterschiede in der Bezahlung zum Wehrdienst müssen reduziert werden,
um nicht-militärischem, zivilgesellschaftlichem Engagement angemessenere
Wertschätzung zukommen zu lassen. Die Einsatzstellen verdienen stabile,
verlässliche Finanzierung, die das Angebot von Dienstplätzen ermöglicht, aber
ihre Unabhängigkeit wahrt. Das Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen für die
Bundestagswahl 2025 hat die richtige Richtung eingeschlagen: Es sieht den
Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienstplatz und entsprechenden Ausbau der
Bundesfreiwilligendienste vor (5).
Debatten, ob es nun sechs oder zwölf Monate sein sollen, am Stück oder
aufgeteilt, von aufgelösten Wehrämtern oder überlasteten
Freiwilligendienststrukturen koordiniert, zielen alle darauf ab, eine
unverantwortliche Idee möglichst störungsfrei umzusetzen. Neue Strukturen
aufzubauen lenkt ab davon, kaputte zu reparieren. Aufgabe der Grünen muss sein,
den politischen Diskurs wieder zu öffnen für strukturelle Lösungen.
Deshalb ist die Position der Grünen Bremen: Die bestehenden Freiwilligendienste
müssen ausgebaut und durch existenzsichernde Vergütung tatsächlich allen
Menschen zugänglich machen; auch die Förderung für eigenverantwortliches
zivilgesellschaftliches Engagement muss erhalten und ausgebaut werden. Wir
bleiben dabei, einen Raum zu öffnen für strukturelle Lösungen, aber
Dienstpflichten jeder Art lehnen wir ab: Denn sie verschlimmern
Ungerechtigkeiten, binden dringend benötigte Kapazitäten, und wälzen
gemeinschaftliche Verantwortung ab auf diejenigen, die jetzt schon am meisten
unter den Versäumnissen der letzten Jahre leiden!
(1) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2025): Gender
Care Gap - ein Indikator für die Gleichstellung;
https://www.bmbfsfj.bund.de/bmbfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-
gap/indikator-fuer-die-gleichstellung/gender-care-gap-ein-indikator-fuer-die-
gleichstellung-137294
(2) Deutscher Bundestag (2024), Drucksache 20/14120: Vierter Engagementbericht
Zugangschancen zum freiwilligen Engagement und Stellungnahme der
Bundesregierung;https://www.bmbfsfj.bund.de/resource/blob/253736/dd4ef263cc3ef07-
961b92a09e5e99ffc/vierter-engagementbericht-2024-data.pdf
(3) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2024): Vierter
Engagementbericht Zugangschancen zum freiwilligen Engagement Zentrale
Ergebnisse;
https://www.bmbfsfj.bund.de/resource/blob/264738/ff6cd5914000bdb0b7d5c924012cee1-
8/vierter-engagementbericht-barrierefrei-deutsch-data.pdf
(4) BertelsmannStiftung (2024): Mehr Engagement junger Menschen ist möglich -
wenn sie sich ernst genommen fühlen; https://www.bertelsmann-
stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/dezember/mehr-engagement-junger-
menschen-ist-moeglich-wenn-sie-sich-ernst-genommen-fuehlen
(5) Bündnis 90/Die Grünen (2025): Zusammen Wachsen – Regierungsprogramm 2025, S.
111,
https://cms.gruene.de/uploads/assets/20250318_Regierungsprogramm_DIGITAL_DINA5.p-
df
Unterstützer*innen
- Désirée Schwindenhammer (KV Bremen-Mitte)
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